Carte de Visite
Mit IM MUSEUM kommst du… richtig… ins Museum! Egal, wo du bist, egal, wie viel Zeit du hast. Wir nehmen dich mit zu skurrilen, lustigen, bedeutenden oder berührenden Objekten, tauchen in Ausstellungsthemen ein oder gehen mit interessanten Menschen im Museum spazieren. Hier bekommst du Kunst und Kultur, ohne jemals das Haus verlassen zu müssen!
Das Facebook des 19.Jahrhunderts
Heute bringen wir dich ins Naturhistorische Museum nach Wien. Wir begleiten die Historikerin Stefanie Jovanovic-Kruspel in einen Raum der Schmetterlingssammlung. Und dort – auf einem Tisch in der Mitte des Raumes – warten auf uns überraschenderweise keine Schmetterlinge, sondern vergilbte Portrait-Fotografien. Also genauer gesagt Porträtfotos von Insektenforschern. Ja und was diese Fotos von Männern mit Fangnetzen in den Händen und sonderbaren Hüten auf den Köpfen mit den Sozialen Medien von heute zu tun haben, das erzählt uns Stefanie Jovanovic-Kruspel!
Die Selfie-Besessenheit ist keineswegs ein Kind des digitalen Zeitalters. Tatsächlich haben wir einfach nur diese Form der Selbstdarstellung aus dem 19. Jahrhundert weiterentwickelt. Damals war es die sogenannte Visitkarten-Fotografie, die für einen Hype sorgte, der mit Instagram und TikTok vergleichbar ist: Willkommen in einer Zeit, in der selbst Schmetterlingsforscher mit breitkrempigen Hüten und Fangnetzen um die Wette posierten, als ginge es um die meisten Likes. Stefanie Jovanovic-Kruspel, Historikerin mit Faible für die Schmetterlingssammlung, bringt uns in die Welt der Visitkarten-Fotografie. Sie zeigt, wie kleine, handlichen Bilder zum Facebook ihrer Zeit avancierten – nur mit mehr Haltung, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ein Boom, der seinesgleichen sucht
Im Jahr 1854 erblickte die Visitkarten-Fotografie in Paris das Licht der Welt, als Fotograf André-Adolphe-Eugène Disdéri die clevere Idee hatte, mehrere Aufnahmen auf einer Platte zu belichten. Plötzlich konnte sich jedermann zu erschwinglichen Preisen verewigen – von Monarchen bis zu Schmetterlingsjägern. In England schossen die Produktionszahlen in die Höhe: 300 bis 400 Millionen solcher Bilder wurden zwischen 1860 und 1867 jährlich hergestellt. Selbst in Wien sprach man von einer „Visitkartenepidemie“, die Menschen in Fotostudios strömen ließ.
Natürlich war ein Foto damals kein spontaner Schnappschuss. Die Belichtungszeiten waren lang, das Stillhalten eine echte Herausforderung. Um Verwacklungen zu vermeiden, wurden Halteapparate eingesetzt – Metallkonstruktionen, die den Fotografierten buchstäblich in Form hielten. Wer genau hinschaut, entdeckt auf manchen Bildern noch die Eisenfüße dieser Vorrichtungen, die später nur unzureichend retuschiert wurden. Ein Lächeln? Lieber nicht. Die Pose musste würdevoll sein, das Outfit makellos – Influencer-Ästhetik avant la lettre.
Die Visitkarten waren nicht nur schicke Andenken, sondern ein Netzwerk-Tool der Sonderklasse. Sie wurden bei gesellschaftlichen Anlässen verteilt, an Gastgeber übergeben oder in elaborierten Fotoalben gesammelt. Kaiserin Sisi selbst soll stolze 18 solcher Alben besessen haben – voll mit Bildern von schönen Frauen, die ihr offenbar als Stilvorbilder dienten. Influencer waren damals eben keine TikToker, sondern elegante Damen in Korsagen und Hüten.
Wissenschaftler im Rampenlicht ihrer Zeit
Die Schmetterlingsforscher des 19. Jahrhunderts waren unter den Ersten, die die neuen Möglichkeiten der Visitkarten-Fotografie erkannten und nutzten. Sie inszenierten sich mit Fangnetzen, Sammelbüchsen und manchmal sogar vor künstlichen Landschaften, um ihre Rolle als Entdecker und Naturforscher zu betonen. Das war damals keineswegs selbstverständlich – schließlich war die Wissenschaft als Beruf gerade erst im Entstehen begriffen. Ihre Porträts sind also mehr als nur persönliche Erinnerungen: Sie sind frühe Beispiele dafür, wie eine Gemeinschaft ihre Identität visuell gestaltet und nach außen trägt. Es ist faszinierend, dass diese Forscher schon damals verstanden haben, wie wichtig Bilder sind, um sich sichtbar zu machen – und damit quasi die Vorläufer der visuellen Wissenschaftskommunikation wurden.
Ein Wunsch für die Selfie-Generation
Was bleibt von diesem Ausflug in die Vergangenheit? Die Erkenntnis, dass auch unsere heutigen Selfies eines Tages als historische Dokumente dienen könnten. Stefanie Jovanovic-Kruspel formuliert es so: „Zeigt euch mit Dingen, die euch wirklich wichtig sind!“ Vielleicht ein Plädoyer für Selfies ohne Filter, dafür mit Herz.
Also ja, das 19. Jahrhundert hatte sein Facebook. Die Likes wurden in Lederalben gesammelt, und wer keine Visitkarte hatte, war schlicht unsichtbar. Vielleicht gar nicht so anders als heute – nur ohne WLAN.